Gailtal Journal: Durch Covid-19 hat sich der familiäre Alltag und das Zusammenleben im Familienclan verändert. Wie wirkt sich das auf die Familie aus und welche Lernprozesse gehen damit einher?
Veronika Leibetseder: Ist der Alltag sonst mehr durch strikte Arbeitsteilung gekennzeichnet, bei der nicht gesehen werden kann, wie die Arbeit bewältigt wird, (wie z.B. das fertige Mittagessen, wenn das Kind von der Schule nach Hause kommt, eigentlich gemacht wurde) kann jetzt der Prozess des Kochens, des Wäsche Waschens, des Putzens, aber auch das Lernen der Kinder oder die berufliche Tätigkeit der Eltern erlebt werden, wenn diese die Möglichkeit haben, im Homeoffice zu arbeiten. Dabei lernen wir einander noch besser kennen, was wiederum mehr Nähe und Verständnis stiftet. Die gegenseitige Wertschätzung und Achtung steigt. Das gegenseitige Helfen auch. Diese neue Art des Zusammenlebens und Bewältigen des Alltags braucht gemeinsames Planen. Dadurch kommunizieren wir mehr miteinander. Wir gestalten unseren Alltag selbstbestimmter. Die Kinder lernen so viel für ihre zukünftige Bewältigung des praktischen Lebens. Man rückt zusammen und wächst gemeinsam. Die Kinder lernen von der Mama kochen, die Mama lernt Mathe. Es ist eine Welt, die geteilt wird und einander näher bringt. Und man ist in dieser Zeit füreinander da. Viele Gespräche finden statt, die ohne den Shutdown keinen Platz gehabt hätten, für die keine Zeit gewesen wäre, die aber wichtig sind. Viele Ablenkungen fallen weg. Das macht Platz für Wesentliches – menschliche Nähe.
Corona stellte viele Beziehungen und Ehen auf die Probe. Ist die Krise auch eine Chance, dass wir unser Leben als Liebende reflektieren, neu definieren oder anders gestalten?
Ich denke, Corona stellt die Beziehungen und Ehen auf die Probe, deren Fundament etwas brüchig ist. Arrangements, die auf faulen Kompromissen beruhen, funktionieren nun nicht mehr. Aber es gibt jetzt Zeit, daran zu arbeiten. Was so viel heißt, wie darüber reden. Wichtig dabei ist eine achtsame und wertschätzende Haltung gegenüber dem Partner. Und wenn möglich Ich-Botschaften statt Du-Vorwürfe zu äußern. „Mir geht es nicht gut weil“ … anstatt „Du hast schon wieder“ … Nützen Sie diese Zeit. Sie werden nachher miteinander glücklicher sein. Oder Sie trennen sich, weil es einfach nicht passt und Sie frei sein möchten für eine Partnerschaft, die glücklich macht. Deswegen sind wir ja in einer Beziehung oder Ehe, oder?
In der Isolation waren wir plötzlich gezwungen, viel Zeit mit uns selbst zu verbringen. Welche Potenziale, Stärken und Fähigkeiten entwickeln wir?
Wir nützen die Zeit für unsere eigene Standortbestimmung. Wo stehe ich? Wo will ich hin? Bin ich dort, wo ich sein wollte? Welche Wünsche und Ziele habe ich für mein Leben? Bin ich glücklich? Bin ich zufrieden? Was ist mir wichtig? Und auf was kann ich verzichten? Gerade dieser Punkt taucht auf. Und wir erkennen oft, dass wir viel weniger Materielles brauchen, als wir dachten und auch mit weniger Geld auskommen können. Dafür möchten wir sozialen Kontakt, Zuwendung von dem / den anderen.
Corona hat uns förmlich dazu gezwungen, dass wir unser Leben auf die wesentlichsten Grundbedürfnisse beschränken. Lernen wir dadurch eine „Verschlankung“ unseres Lebensstils?
Ich hoffe es. Wir leben in einer Überflussgesellschaft. Corona zeigt uns, was wir wirklich brauchen. Es sind die Grundbedürfnisse, wie essen und trinken und gesund zu sein. Aber es gibt auch psychische Grundbedürfnisse, die erfüllt werden müssen, damit es uns seelisch gut geht: Freude am Leben, erlebte Liebe in Form von Beziehungen, Partnerschaft, Familie, Freunde. Soziale Einbindung in Familie, Freundeskreis und die Arbeitswelt. Wir haben auch das Bedürfnis nach Sicherheit. Eine Wohnung, Arbeit oder Gesundheit vermitteln uns diese. Damit können wir unsere Existenz absichern und kontrollieren. Wir möchten auch Einfluss und Anerkennung erleben, da wir soziale Wesen sind. Das heißt wir leben in Gruppen und wollen uns selbst verwirklichen. Konsum (im Überfluss) kommt da eigentlich nicht vor. Im Grund erfüllen wir uns beim übermäßigen Konsum von Essen, Bekleidung, Auto, TV, etc. nur scheinbar unsere Wünsche. In Wirklichkeit wünschen wir uns Liebe, Anerkennung, Sicherheit. Da es das nicht oder nicht immer gibt, befriedigen wir uns mit was anderen. Das haben wir so gelernt als wir klein waren. Anstatt Zuwendung von der Mama zu bekommen, haben wir einen Lutscher oder ein Eis bekommen. Anstatt Zeit für gemeinsame Spiele, schenkten uns unsere Eltern Tonnen von Spielsachen. So wurden wir auf unsere Konsumgewohnheiten konditioniert. Und leider auch abhängig gemacht vom Geld.
Man sagt: Krisen schweißen die Menschen zusammen. Wächst daraus eine neue Form der Solidarität und Achtsamkeit für unseren Nächsten?
Corona ist eine Pandemie. Das bedeutet, dass sich weltweit schon zu viele Menschen angesteckt haben. Wir können diese Pandemie nur bekämpfen, wenn wir Acht geben, selbst nicht angesteckt zu werden und Acht geben, dass sich der oder die andere auch nicht ansteckt. Schütz ich mich – schütz ich dich ist der Slogan dazu, der zum Ausdruck bringt, dass wir diese Krise nur bewältigen können, wenn wir zusammen halten. Wir müssen solidarisch sein. Rücksichtsloser Egoismus ist komplett fehl am Platz und wird von der Gesellschaft auch strikt abgelehnt. Die Krise zeigt, dass wir Menschen nur überlebensfähig sind, wenn wir zusammenhalten, achtsam miteinander umgehen, aufeinander schauen, die ältere Generation schützen, da diese am meisten gefährdet ist.
Unsere Umwelt und die Natur haben sich während der Corona-Krise erholt. Werden wir durch Covid-19 zu mehr Nachhaltigkeit und gesteigertem Umweltbewusstsein hingeleitet?
Ich hoffe es. Fürchte aber eher nein. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Und er ist bequem. Jetzt gilt es, meiner Meinung nach, vor allem seitens der Medien Dokumentationen über die positive Auswirkung des Shutdown auf die Natur zu zeigen. Ich sehe da zu wenig davon. Das wäre Aufgabe des öffentlichen Rundfunks. Auch die Politik muss jetzt rasch handeln, um von dieser positiven Entwicklung etwas „herüber zu retten“. Der Shutdown zeigt uns den Weg, wie wir unsere Klimaprobleme in den Griff kriegen können und hat uns den klaren Beweis geliefert, dass weniger Flugzeuge, Autos etc. tatsächlich eine Klimaverbesserung herbeiführen können.
Welche Kompetenzen können und müssen wir Menschen aus der Corona-Krise entwickeln?
Das digitale Zeitalter ist durch den Shutdown endgültig bei uns angekommen. Viele Konferenzen können nun auch über Skype etc. erledigt werden. Viel unnötige Fliegerei kann dadurch erspart werden.
Wir gehen sorgfältiger mit unseren Ressourcen um. Es wird bewusster eingekauft: mehr regionale Produkte.
Es ist wieder mehr Platz und Raum wenn es um die Hilfe für ärmere und kranke Menschen geht. Weil wir sensibler und empathischer für die Bedürfnisse des anderen geworden sind. Es wird viel getan gegen die Vereinsamung des Menschen – mit neuen Mitteln, auf neuen Wegen.
Wir dürfen nicht verlernen, Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Wir wissen nun, dass nicht immer alles machbar ist, wie wir es uns vorstellen. Dass es aber immer neue Wege gibt, die wir nun finden müssen. Lösungskompetenz ist gefragt; Flexibilität und der Glaube bzw. die Hoffnung, dass alles gut wird. Das ist positives Denken, das uns gut durch eine Krise, aber auch durch unser ganzes Leben führt.